Preview am Sonntag (49)

Immer sonntags stellen wir einen Auszug aus einem Roman online, der noch nicht erschienen ist. Wir weisen darauf hin, dass die Auszüge aus Manuskripten stammen, die unter Umständen noch nicht im Lektorat und auch noch nicht vorbestellbar sind. Heute: Der Auftakt aus „Das Lied von Duino“, Teil 3 der „Götterdämmerung“-Trilogie von Frank W. Haubold. Der Roman erscheint im Sommer als Hardcover, Paperback und eBook.

Der Roman schließt an die Geschehnisse aus „Das Todes-Labyrinth” an, der im September 2013 als Hardcover und Paperback erschien, und der auch als eBook bei Amazon und beam-eBooks erhältlich ist. Dieser war die Fortsetzung von „Die Gänse des Kapitols“, der im April 2012 erschien; als Hardcover und Paperback und als eBook bei Amazon und beam-eBooks. Timo Kümmel zeichnete die Cover zu den Teilen 1 und 2, und er wird auch das zum dritten Teil beisteuern.

 

Der Mann, der sich Vincent Procturro nannte, erwachte eine knappe Minute vor der programmierten Weckzeit und stellte den Vibrationsalarm seines Compads ab. Trotz der Dunkelheit im Raum – er hielt die Jalousien nachtsüber stets verschlossen – verzichtete er darauf, das Licht einzuschalten. Er war es gewohnt, sich im Dunklen zurechtzufinden. Wann und unter welchen Umständen er diese Fähigkeit erworben hatte, hatte der Mann ebenso vergessen wie seinen richtigen Namen und jene, die er bei anderen Einsätzen getragen hatte. Seine Erinnerungen fokussierten sich auf das Wesentliche: seinen Auftrag.

Im Badezimmer kam er der Forderung seines Körpers nach Entleerung der Blase nach und erfrischte sich mit einem Schwall kalten Wassers, indem er sein Gesicht kurz unter den Wasserhahn hielt. Das mußte als Morgentoilette genügen, denn die Zeit war knapp kalkuliert.

Bevor er sich auf den Weg machte, klickte er die Aufnahmen der Watcher durch und vergewisserte sich, daß niemand im Haus unterwegs war. Um zwei Uhr Morgens war die Wahrscheinlichkeit einer zufälligen Begegnung zwar  gering, aber ein gewisses Restrisiko bestand immer.

Vincent zog die Tür vorsichtig hinter sich zu und durchquerte den von Nachtlichtern spärlich erhellten Korridor in Richtung Treppenhaus. Natürlich hätte er auch den Lift benutzen können, aber angesichts der Stille im Haus wollte er jedes unnötige Geräusch vermeiden.

Es dauerte ein wenig, bis Stufen und Treppenabsätze erkennbar wurden, dennoch bewegte sich Vincent beim Abstieg vollkommen sicher und lautlos wie ein Schatten. Es war nicht sein erster Ausflug in die von massiven Stahlbetonwänden beschützte Unterwelt der Leandros-Villa.

Neben diversen Kühl- und Lagerräumen beherbergte das Kellergeschoß auch sämtliche technischen Anlagen von der Klimazentrale bis hin zur Wasseraufbereitung. Fachleuten wären einige der Anlagen sicherlich überdimensioniert, wenn nicht gar verdächtig erschienen, aber es gab keine Fachleute auf Malmari Bay.

Das Personal stammte – wie auch das Gros der Einwohnerschaft – von einer vergessenen Kolonialwelt namens Sevesio, die nicht einmal eine Sphere-Anbindung besaß. Für den Transfer hatte Procturro seinerzeit ein sikhanisches Tarnschiff angeheuert – eine durchaus aufwendige Vorsichtsmaßnahme, die sich aber ausgezahlt hatte. Die Umsiedler hatten ihre neue Heimat mit jener naiven Begeisterung aufgenommen, die Pioniere von jeher auszeichnete, und dankten die Verbesserung ihrer Lebensumstände mit bedingungsloser Loyalität. Sie verehrten den alten Herrn als Wohltäter und Patriarchen, was beiden Seiten guttat und maßgeblich zu Harmonie des Ortes beitrug.

Die meisten Besucher, ganz gleich ob geladene Gäste oder Neugierige, die sich den Luxus der teuren Passage leisten konnten, waren beeindruckt vom freundlichen Wesen der Bewohner, den malerischen Ortschaften, dem angenehmen Klima und der üppigen Vegetation. Oft schieden sie nur ungern und mit unverhohlenem Bedauern.

Dabei war Malmari Bay im Grunde nichts weiter als ein Potemkinsches Dorf, dessen Bewohner allerdings nicht einmal ahnten, daß sie Teil einer Kulisse waren. Selbst die Zuträger, derer Dienste sich Procturro versichert hatte, blieben bei aller Geheimniskrämerei dennoch der Fiktion eines historisch gewachsenen Gemeinwesens verhaftet – einem alten Familienbesitz, an den sich das Ehepaar Leandros nach einer Reihe von Schicksalsschlägen zurückgezogen hatte.

An dieser vermeintlichen Tatsache zweifelte nicht einmal der alte Reeder selbst, der sich nach seinem Zusammenbruch erstaunlich gut gefangen und mit den Gegebenheiten abgefunden hatte. Bei Carlotta war sich Vincent nicht so sicher. Die Dame des Hauses sprach nicht viel, aber hinter der Maske der Unnahbarkeit verbarg sich eine aufmerksame Beobachterin, die ihre eigenen Schlüsse zog. Sie mißtraute ihm, daran bestand nicht der geringste Zweifel, aber ihre Ablehnung ging nie so weit, daß sie ihn offen brüskierte. Vermutlich duldete sie seine Anwesenheit nur ihrem Mann zuliebe oder aus einem Gefühl der Verpflichtung heraus.

Dennoch stellte Carlotta keine Gefahr für seine Pläne dar. Wahrscheinlich würde sie sich eher die Zunge abbeißen, als etwas nach draußen zu tragen, das die Familie betraf. Ihre Loyalität Leandros gegenüber stand außerhalb jedes Zweifels. Sie würde nie etwas tun, das einen Schatten auf den Namen warf, den sie trug.

Procturro bedauerte ihre Vorbehalte seiner Person gegenüber nicht etwa aus gekränkter Eitelkeit, sondern aus rein praktischen Gründen. Mit ihrer Intelligenz und Selbstdisziplin wäre Carlotta Leandros eine ideale Verbündete gewesen, erst recht, wenn sie erfuhr, wer für die Tragödie von Pagasos Forest verantwortlich war.

Der alte Mann hingegen war dagegen nur noch eingeschränkt Herr seiner Entschlüsse, seitdem sich die Neuromediziner an Bord des Zeitschiffes seiner angenommen hatten. Vielleicht waren es ja auch diese – für Außenstehende kaum wahrnehmbaren – Veränderungen in Leandros’ Wesen, die Carlotta seinem Retter gegenüber mißtrauisch machten …

Procturro zuckte mit den Schultern. Er hatte sich Leandros gegenüber nichts vorzuwerfen. Jeder andere an seiner Stelle hätte genauso gehandelt. Möglicherweise würde er sich nach seiner Rückkehr verantworten müssen, aber auch das schreckte ihn nicht. Jeder Eingriff war moralisch anfechtbar und letztlich nur das Resultat einer Wahl zwischen mehreren Übeln. Die Beeinträchtigung der Entscheidungsfreiheit eines Menschen, der ohne sein Eingreifen gestorben wäre, war ein zumutbarer Preis für die Möglichkeit, eine Katastrophe zu verhindern. Viel schwerer wog der Zwischenfall mit diesem armen Narren von der Bruderschaft, den der Übereifer seiner örtlichen Verbindungsleute das Leben gekostet hatte. Sie hatten den Attentäter zwar nur aufhalten sollen und keineswegs umbringen, aber das änderte nichts an den Tatsachen. Der Mann war tot, und er war dafür verantwortlich, auch wenn es vermutlich nie zu einer offiziellen Untersuchung des Falles kommen würde. Ein Erfolg seiner Mission würde sie überflüssig machen – aus einer ganzen Reihe von Gründen …

Vincent lächelte melancholisch, als er die schwere Stahltür zum Generatorraum öffnete. Das Aggregat – ein mattschwarz schimmernder Quader von beeindruckenden Ausmaßen – lief wie gewohnt im Standby-Betrieb. Offiziell diente es als Notstromversorgung, aber das war nur die halbe Wahrheit. Sein tatsächlicher Zweck war ein anderer, von dem niemand im Haus etwas ahnte.

Außer ihm selbst hatte ohnehin nur Nikos, der Hausmeister, Zutritt zu den technischen Anlagen, und der alte Mann würde sich hüten, dieses Privileg zu mißbrauchen. Er kümmerte sich generell nicht um Dinge, die ihn nichts angingen, zumal Procturro ihm erklärt hatte, daß das Aggregat keiner Wartung bedurfte und im Bedarfsfall automatisch anlief.

Zur Sicherheit hatte er dennoch einen Watcher installiert, dessen Aufzeichnungen jedoch nur das Erwartete bestätigten: Der Hausmeister begnügte sich bei seinen Kontrollgängen mit einer flüchtigen Inspektion des Raumes, wobei er stets ausreichend Abstand zum Generator hielt, der ihm offensichtlich nicht geheuer war.

Also gut, dachte der Mann. Bringen wir es hinter uns.

Er beugte sich über das Bedientableau, aktivierte den Irisscan und schaltete nach der Identifizierung auf Lastbetrieb. Einige Anzeigen wechselten ihre Farbe, und das normalerweise kaum wahrnehmbare Summen des Aggregats wich einem dumpf vibrierenden Geräusch knapp oberhalb der Hörschwelle.

Sekunden später glitt ein Teil der Wand zur Seite und gab den Zugang zu einem weiteren Raum frei. Der Mann trat hindurch und wartete, bis sich die Geheimtür wieder geschlossen hatte.

Der fensterlose Raum war spartanisch eingerichtet. Genau genommen gab es nur ein einziges Möbelstück – eine Art Pilotensessel mit einem schmalen Bedientableau im Bereich der rechten Armlehne. Dazu kamen zwei Projektoren an der Frontseite, die auf Stative montiert und auf den Sessel ausgerichtet waren. Den armdicken Versorgungsleitungen nach zu urteilen, handelte es sich um äußerst leistungsstarke Geräte. In der Wandmitte zählte eine überdimensionale Leuchtanzeige die Sekunden herunter: 01:30 … 01:29 … 01:28 …

Dem Mann blieb noch eine reichliche Minute, um seine Vorbereitungen abzuschließen. Er nahm Platz, lehnte sich behaglich zurück und betätigte einen Schalter an Bedienkonsole. Das dumpfe Geräusch schwoll an, aber vielleicht nahm er auch nur die Vibrationen stärker wahr, die sich über den Fußboden übertrugen.

Noch dreißig Sekunden bis zum Transfer.

Procturro atmete ruhig und kontrolliert, während sein Oberkörper langsam nach hinten sank. Die Luft um ihn herum begann bläulich zu schimmern.

Noch zehn Sekunden.

Das Zeitschiff mußte jeden Moment an der berechneten Position im Orbit des Planetoiden auftauchen.

Drei … zwei … eins. Ein Tonsignal bestätigte den Kontakt, Sekundenbruchteile bevor das Display auf 00:00 umschaltete und Vincent das Bewußtsein verlor.